Realitätsabgleich
Da draußen rennen Leute rum, die gibt’s gar nicht, kann's gar nicht geben, weil so was eigentlich nur in schlechten Filmen oder Romanen auftauchen sollte. Wo man sich dann denkt, was für 'ne billige Idee dieser Charakter ist, und dass der ja nur für das reflexive Moment des Protagonisten oder aus irgendeinem anderen schlecht konstruierten und überdeutlich sichtbaren Grund in die Geschichte reingedrückt wurde, und anschließend das Buch genervt zur Seite legt und lieber ein bisschen an die Rauhfasertapete starrt. Wie der Psychater, der die fünf Fragebögen, die ich ausfüllen musste, um in sein schon in den Achtzigern schlecht eingerichtetes Sprechzimmer vorgelassen zu werden, einfach komplett ignoriert, und mir dieselben Fragen in desinteressiertem, gehetztem Ton noch einmal stellt, die Augen auf die Tatstatur gerichtet, auf der er mit zwei bis drei Fingern die passenden Buchstaben sucht, sichtlich mit der Menueführung der Software überfordert. Eigentlich wollte ich nur eine Lagebesprechung, um eben nicht wieder in der Depression zu landen, die milde lächelnd seit einigen Wochen vor meiner seelischen Haustür rumlungert, und eigentlich weiß ich, dass ich bei einem wie dem hier völlig falsch bin, aber kurzfristige Termine bekommt man eher schlecht bis gar nicht bei den hiesigen Therapeuten. Warum meine Hausärztin hier erfolgreicher war, ist immer weniger ein Geheimnis, genauso wenig wie die Gründe für das komplett leere Wartezimmer. Das empathielose, inkompetente Arschloch mir gegenüber wird ganz offensichtlich zurecht von der potentiellen Patientenschaft gemieden. Irgendwann zwischen Familienstatus der Eltern und Schulabschluss werfe ich ein, dass ich mal eine Episode in einer Psychosomatischen Klinik hatte, so mit 20, Kiffen, Depressionen, Krise, siewissenschon, dachte das könnte wichtig sein. Ob ich noch kiffen würde, fragt er mich, ich sag, naja, kommt schon mal vor, dass ich mal an einem Joint ziehe, aber extrem selten und dann nur ein-, zweimal, auf Soziophobie steh' ich nicht so. Hamses also noch nicht gelernt, blafft er mich an, und fragt, ob ich noch andere Drogen nehme, äh, nein, selbstverständlich nicht, sag ich, ich bin ja nicht bescheuert und erzähl dem jetzt von, najasiewissenschon. Dann faselt er was von Sozialgesetzbuch V, der Pflicht, arbeitsfähig zu sein und zu bleiben, und dass ich mal bloß nicht glauben soll, er schreibe mich jetzt krank oder sowas, ich soll mir mal die aufgeschriebenen Antidepressiva holen und in drei Wochen nochmal herkommen. Ja, bestimmt, denke ich mir, alles klar, und erinnere mich eine halbe Stunde und einen Heulkrampf auf der Straße später schließlich doch noch, dass man letzten Endes eben doch in den aller meisten Fällen auf sich selbst gestellt ist, und Hilfe suchen und Hilfe finden immer noch zwei ganz unterschiedliche Buletten sind. Dass man ganz schön am Arsch gepackt ist, wenn man nicht genug Kraft hat, um sich selbst aus sowas rauszuziehen, und wie gut es ist, dass ich ab und an zu Trotzreaktionen neige.
Anna Licht - 24. Sep, 13:51